Hassrede auf sozialen Medien nimmt zu, wenn es zu heiß oder zu kalt ist. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Wissenschaftlern des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).
Hass in den „sozialen“ Medien, auch gegen Mediziner, beschäftigt seit Corona-Beginn zunehmend Polizei und Staatsanwaltschaft (Bundeskriminalamt: „Hass tritt im Internet durch Äußerungen zum Vorschein, die häufig die Grenze zur Strafbarkeit überschreiten“). Dies zeigte kürzlich der verstörende Fall einer in den Selbstmord getriebenen österreichischen Ärztin aus Seewalchen. Ursachen von Online-Hass sind nicht nur die vermeintliche Anonymität der Täter oder die psychisch belastenden Folgen von Lockdowns, sondern auch Temperaturen, die über oder unter dem Wohlfühlbereich von 12-21° Celsius liegen. Denn diese sind mit einem deutlichen Anstieg aggressiven Online-Verhaltens verbunden, wie Wissenschaftler des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) jetzt festgestellt haben. Bei der Analyse von Milliarden von Tweets, die auf der Social-Media-Plattform „Twitter“ in den USA gepostet wurden, stellten sie fest, dass Hassrede in allen Klimazonen, Einkommensgruppen und Glaubenssystemen zunimmt, wenn es zu heiß oder zu kalt ist.
Diese Erkenntnis deutet auf Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit an extreme Temperaturen hin und wirft ein Licht auf eine bisher unterschätzte gesellschaftliche Auswirkung des Klimawandels: Konflikte in der digitalen Welt, die sich sowohl auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt als auch auf die psychische Gesundheit der Einzelnen auswirken.
Aggressiv außerhalb der Komfortzone
„In mehr als vier Milliarden Tweets von US-Nutzern haben wir mit unserem KI-Algorithmus Hass-Tweets aufgespürt und mit Wetterdaten kombiniert. Dabei haben wir festgestellt, dass sowohl die absolute Zahl als auch der Anteil der Hass-Tweets außerhalb einer Klimakomfortzone steigt: Menschen neigen zu aggressiverem Online-Verhalten, wenn es draußen entweder zu kalt oder zu heiß ist“, erklärt PIK-Wissenschaftlerin Annika Stechemesser, Erstautorin der in „The Lancet Planetary Health“ publizierten Studie. „Wenn man von Online-Hassrede betroffen ist, kann das eine ernsthafte Bedrohung für die eigene psychische Gesundheit sein. Aus der psychologischen Fachliteratur wissen wir, dass Online-Hass vor allem bei jungen Menschen und Angehörigen von Minderheiten zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit führen kann“, so Stechemesser weiter. „Unsere Untersuchung zeigt, dass in den USA außerhalb eines Wohlfühlfensters von 12-21° Celsius der Online-Hass bei kälteren Temperaturen um bis zu 12% und bei wärmeren Temperaturen um bis zu 22% zunimmt“.
Die Folgen eines aggressiveren Online-Verhaltens können schwerwiegend sein, da Hassrede nachweislich negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Opfer von Online-Hass hat. Sie können auch Vorboten von Hassverbrechen in der Offline-Welt sein. „Schon lange beschäftigen sich Forschende mit der Frage, wie sich die Klimabedingungen auf das menschliche Wohlbefinden und Verhalten und damit die Gesellschaft auswirken“, erklärt Dr. Leonie Wenz, PIK-Arbeitsgruppenleiterin und Leiterin der Studie: „Jetzt, angesichts des fortschreitenden Klimawandels, ist diese Fragestellung wichtiger denn je. Unsere Ergebnisse zeigen, dass Online-Hassrede ein neuer Kanal ist, über den der Klimawandel den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die psychische Gesundheit der Menschen beeinflussen kann. Das bedeutet also, dass eine sehr schnelle und drastische Senkung der Emissionen nicht nur der Außenwelt zugutekommen wird. Der Schutz unseres Klimas vor einer zu starken Erwärmung ist auch für unsere psychische Gesundheit entscheidend“.
Pressemitteilung Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, September 2022
Stechemesser A et al.; The Lancet - Planetary Health. 2022 Sept;6(9):e714-25 (DOI 10.1016/S2542-5196(22)00173-5).