Aufgrund ihrer vielen Begleiterkrankungen werden alte (und auch gar nicht so alte Menschen) oft von der Teilnahme an randomisierten kontrollierten Studien (RCT) ausgeschlossen. Aber gerade sie benötigen Medikamente, die gar nicht bei ihnen getestet werden. Ein Beispiel hierfür ist die Behandlung der Hypertonie, wie PD Dr. med. Dhayana Dallmeier (Ulm) erläuterte. Abhilfe könnten hier heterogene Expositionsassoziationen (HEA) bieten. Diese werden definiert als signifikante Unterschiede in der Auswirkung einer hypothetisch kausalen Exposition auf einen Endpunkt unter Studienteilnehmern, die sich durch eine Reihe von Merkmalen unterscheiden. Um HEA zu identifizieren, bedienten sich die US-Epidemiologen des Random-Forest-Algorithmus. Damit ließen sich aus einem großen Datenpool (Cardiovascular Health Study, Health, Aging, and Body Composition Study und der Sacramento Area Latino Study on Aging) Risiken bei Älteren herausfiltern. So lag beispielsweise das Risiko, einen diastolischen Blutdruck von mehr als 80 mmHg zu entwickeln, bei Männern mit einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30 um 10 % höher als bei Männern, die einen BMI von weniger als 30 hatten (Hazard Ratio [HR] 1,11; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,01–1,20). Dallmeier betonte, dass HEA das Potenzial haben, unser Verständnis der Krankheitsmechanismen in heterogenen Populationen zu verbessern. So ließen sich beispielsweise mit dem Random-Forest-Algorithmus Personen mit erhöhtem Risiko identifizieren. Des Weiteren werde durch diese Studie deutlich, dass gerade bei sehr heterogenen Gruppen, wie es bei den Älteren der Fall ist, auch sehr große Datenmengen für die Studienplanung erforderlich sind.
Odden MC et al., Am J Epidemiol 2020; 189: 55–67
Ist ein Delirium ein Risikofaktor für eine Demenz? Dieser Frage gingen brasilianische Forscher mit den Daten von 309 älteren Patienten einer geriatrischen Abteilung nach, die mindestens ein Jahr nach ihrer Klinikentlassung nachverfolgt wurden. Alle Patienten erhielten eine umfassende geriatrische Untersuchung mit Schwerpunkt auf der kognitiven Leistungsfähigkeit. Bei 66 (21 %) dieser Senioren wurde während des Klinikaufenthalts ein Delir festgestellt, wie PD Dr. med. Olaf Krause (Hannover) berichtete. Von diesen Delir-Patienten entwickelten im Verlauf von zwei Jahren nach Klinikentlassung 21 (32 %) eine Demenz bzw. schritt die kognitive Einschränkung fort. Bei denjenigen ohne Delirium wurde bei 38 (16 %) eine Demenz festgestellt. Nach Bereinigung um mögliche Störfaktoren waren das Delirium und die Demenz unabhängig voneinander assoziiert; Sub-Hazard-Ratio 1,94 (95%-KI 1,10–3,44; p = 0,022). Krause schließt sich der Folgerung der brasilianischen Geriater an, dass ein Delir als unabhängiger und potenziell vermeidbarer Risikofaktor für den zukünftigen kognitiven Rückgang der Patienten zu werten ist.
Barreto Garcez F et al., Age and Ageing 2019; https: //doi.org/10.1093/ageing/afz107
Eigentlich liegt es auf der Hand: wem beim schnellen Aufstehen aus der Horizontalen schwindelig wird, fällt leichter um. Das betrifft oft ältere Menschen, bei denen die Blutdruckregulation der veränderten Lage nicht so schnell nachkommt. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen orthostatischer Hypotonie als Risikofaktor für Stürze bisher nicht systematisch untersucht worden. Diese Wissenslücke wird nun von einer niederländisch-australischen Metaanalyse geschlossen, so Prof. Dr. med. Ulrich Thiem (Hamburg). Es wurden 50 Studien mit Datensätzen von 49 164 über 65-jährigen Personen in die Metaanalyse aufgenommen. Ergebnis: Die orthostatische Hypotonie war positiv mit Stürzen assoziiert (Odds Ratio 1,73; 95%-KI 1,50–1,99) – unabhängig von der Studienpopulation, dem Studiendesign, der Studienqualität, der Definition der orthostatischen Hypotonie und der Blutdruckmessmethode. Somit gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen orthostatischer Hypotonie und Stürzen bei älteren Erwachsenen. Für Thiem und die Studienautoren bedeutet dies, vor allem bei älteren Menschen vermehrt Tests zum orthostatischen Blutdruckabfall vorzunehmen und gegebenenfalls rechtzeitig therapeutisch gegenzusteuern, um so Stürzen vorzubeugen, die weitere gesundheitliche Folgen nach sich ziehen können.
Mol A et al., J Am Med Dir Assoc 2019; 20: 589–597
Die Polysomnografie ist der Goldstandard für Schlafmonitoring. Doch mit den vielen Ableitungen von u. a. Lidbewegungen, Herz- und Atemfrequenz sowie Beinbewegungen ist diese Untersuchungsmethode apparativ und personell aufwendig. Zudem wirft diese Prozedur gerade für Ältere praktische Probleme auf. Wenn nachts die Blase drückt, muss sich der Patient für den Toilettengang erst einmal von allen Kabeln abstöpseln. Doch heutzutage funktioniert Schlafmonitoring auch einfacher – nämlich mit Künstlicher Intelligenz (KI), wie Prof. Dr. med. Walter Maetzler (Kiel) anhand einer britischen Studie berichtete. Dabei wurde bei 1 743 älteren Probanden (55–94 Jahre) das klassische Schlafmonitoring mit einer Methode verglichen, bei der mittels KI (verschiedene Systeme) lediglich die Werte aus Bewegungen und Herzfrequenz (kabellos übertragen) analysiert wurden. Ergebnis: Mit der Kombination aus Aktigrafie und EKG lassen sich in der KI-Analyse die Schlafphasen annähernd so zuordnen, wie bei der Polysomnografie. Bei der Bewertung der verschiedenen KI-Modelle ergab sich, dass neuronale Netzwerkmodelle herkömmlichen Methoden des maschinellen Lernens und heuristischen Modellen sowohl für die Schlaf-Wach- als auch für die Schlafstadien-Klassifizierung überlegen waren. Convolutional Neural Networks (CNNs) und Netzwerke mit Langzeit-Kurzzeitgedächtnis (Long-Short Term Memory, LSTM) waren die besten Performer für die Schlaf-Wach- bzw. Schlafstadien-Klassifikation.
Zhai B et al., ACM Interact Mob Wearable Ubiquitous Technol 2020; https://doi.org/10.1145/3397325
Bei älteren Menschen gilt es, Knochenbrüchen vorzubeugen. Da sich Stürze nicht immer vermeiden lassen, wird versucht, mit einer weichen „Landefläche“ Frakturen zu verhindern. Eine solche nachgiebige Fläche könnten spezielle Bodenbeläge sein. Um zu eruieren, ob diese wirklich zu weniger verletzungsträchtigen Stürzen führen, legten kanadische Forscher die FLIP-Studie (Flooring for Injury Prevention) auf. Wie Prof. Dr. med. Kilian Rapp (Stuttgart) berichtete, wurden in einem kanadischen Altenheim 74 Einzelzimmer (Interventionsräume) mit einer weichen Schicht unter dem eigentlichen Vinyl-Bodenbelag ausgestattet. In den 76 Kontrollräumen lag Sperrholz unter dem Vinyl. Über den Beobachtungszeitraum von vier Jahren belegten 184 Bewohner die Interventions- und 173 Bewohner die Kontrollräume. Das überraschende Ergebnis: Ein weicher Bodenbelag hatte keinen Einfluss auf die Rate schwerer sturzbedingter Verletzungen (0,362 vs. 0,422 pro 1 000 Bettnächte, Ratenverhältnis [RR] 1,04; 95%-KI 0,45–2,39; p = 0,925; 0,038 vs. 0,053 pro Sturz; RR 0,81; 95%-KI 0,38–1,71; p = 0,560).
Mackey DC et al., PLoS Med 2019; 16: e1002843
Der neue US-Präsident Joe Biden ist im Januar 2021 bereits 78 Jahre alt. Eine US-Studie hat errechnet, dass er seine erste Präsidentschaft zu 79 % überstehen wird [1]. Mit dieser von Prof. Dr. med. Ursula Müller-Werdan (Berlin) vorgestellten Berechnung stellt sich die Frage: Wann ist ein Mensch zu alt, um Präsident zu sein? Ganz wesentlich hängt die Antwort darauf nicht so sehr von der rechnerischen Lebenserwartung ab, sondern es gehe auch um die geistige Fitness, genauer gesagt um das Demenzrisiko, so Müller-Werdan. Und hier haben sich im vergangenen Jahr weitere Risikofaktoren herauskristallisiert. Außer geringer Bildung, Bluthochdruck, Hörschäden, Rauchen, Adipositas, Depressionen, Bewegungsmangel, Diabetes und wenig Sozialkontakte zählen nun auch Alkoholkonsum etc. zu den Risikofaktoren für eine Demenz, erläuterte die Berliner Geriaterin (Abb.) [2]. Eine Aussage, wie es um die geistige Fitness des Präsidenten steht, konnte aus den Studien nicht ersehen werden.
Voelker R, JAMA 2019; 322: 1240–1241
Livingston G et al., The Lancet 2020; 396: 413–446
Die Erwartungshaltung des Patienten bei der Therapie zu steuern lohnt sich: damit kann der Therapieeffekt gesteigert werden. Ist der Arzt jedoch nicht überzeugend, wirkt ein Therapeutikum entsprechend schlechter, ein Nocebo-Effekt stellt sich ein.
Der Placebo-Effekt ist seit dem zweiten Weltkrieg bekannt. Damals hatte Dr. Henry Beecher erstmal in Ermangelung eines Analgetikums Verwundeten ein Scheinmedikament verabreicht, dass tatsächlich eine Schmerzlinderung bewirkte. Seitdem hat die Placebo-Forschung großen Aufschwung erfahren: heute wird fast jedes neue Medikament gegen Placebo getestet. Wie Prof. Dr. rer. biol. hum. Manfred Schedlowski (Essen) berichtete, kann heute auch ein neurobiologisches Korrelat des Placebo-Effekts mittels PET und EEG nachgewiesen werden. Vor allem der anteriore cinguläre Cortex, die Amygdala, der dorsolaterale präfrontale Cortex und das zentrale Höhlengrau sind physiologisch beim Placebo-Effekt aktiv. Dabei ist die Erwartungshaltung des Patienten von Bedeutung: Schedlowski berichtete von einem Versuch, bei dem die Patienten entweder wussten, wann sie ein Schmerzmittel (Metamizol) bekamen oder die Metamizol-Infusion automatisch also zu einem nicht näher definierten Zeitpunkt per Infusior verabreicht wurde. Dabei wurde festgestellt, dass bei „bewusster“ Analgesie die Schmerzreduktion mehr als das doppelte der Vergleichsgruppe betrug. Zu diesem psychologisch nachvollziehbaren Effekt kommt aber noch die Erfahrung bzw. der Lerneffekt hinzu. Diesen zeigte Schedlowski an einer anderen Placebo-Verum-Untersuchung auf: sechs Gruppen von Migräne-Patienten erhielten entweder ein Sumatriptan (Rizatriptan) oder Placebo. Die Teilnehmer der ersten drei Gruppen erhielten alle ein Scheinmedikament, wurden aber unterschiedlich informiert: „Sie bekommen Placebo“, „Sie bekommen Rizatriptan“ oder „Sie bekommen entweder Placebo oder Rizatriptan“. In den anderen drei Gruppen wurden die Patienten ebenso informiert, erhielten aber alle das Verum. Ergebnis: Selbst die Patienten, die wussten, dass sie nur ein Placebo bekamen, erfuhren eine deutliche Schmerzreduktion – vermutlich durch das Ritual der Pilleneinnahme. Die Teilnehmer, die glaubten ein Placebo zu erhalten, tatsächlich aber Verum einnahmen, hatten eine fast gleichgroße Schmerzreduktion wie die, die dachten, Rizatriptan zu erhalten [1]. Die Sache mit der Erwartung funktioniert auch bei anderen medizinischen Maßnahmen, wie Schedlowski an einer echten und einer vorgetäuschten Arthroskopie verdeutlichte. Allerdings kann die Erwartung auch negativ gesteuert werden, beispielsweise wenn Nebenwirkungen einer Maßnahme zu stark betont werden. Da habe schon so mancher Patient auf eine Behandlung verzichtet, weil ihm die Erkrankung weniger Angst als die Nebenwirkungen machte. Schon Äußerungen wie „Probieren wir mal dieses Medikament“, lösen beim Patienten negative Erwartungen – „der Arzt glaubt ja selbst nicht dran“ – und damit eine suboptimale Wirkung aus. Auch durchaus positive, gut gemeinte Sätze wie „Ihr Befund war negativ“ kann beim medizinischen Laien Ängste erzeugen – und so möglicherweise den Therapieerfolg zunichtemachen. Schedlowskis Fazit: Die den Placebo-Antworten zugrunde liegenden Mechanismen (Erwartung/Kommunikation/Lernen) sollten genutzt werden, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit medizinischer Maßnahmen zu optimieren.
1 Kam-Hansen S et al., Sci Transl Med 2014; 6: 218ra5
Keynote-Lecture zum Placebo-Effekt: Viel Lärm um viel mehr als Nichts