Im Februar ist erstmals eine S1-Leitlinie zum Talgdrüsenkarzinom erschienen. Prof. Dr. med. Jochen Sven Utikal, Leiter der Hautkrebseinheit in Mannheim und am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, erläutert im Interview die Besonderheiten dieses eher seltenen Hauttumors.
Prof. Dr. med. Jochen Sven Utikal
Direktor des Hauttumorzentrums
Universitätsmedizin Mannheim und der Hautkrebseinheit am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ)
Prof. Utikal, was war der Anlass für die Erstellung der S1-Leitlinie?
Talgdrüsenkarzinome sind seltene maligne kutane Adnextumoren mit sebozytärer Differenzierung. Obwohl die Inzidenz in den vergangenen Jahren signifikant gestiegen ist, ist sie vergleichsweise niedrig. Größere populationsbasierte Untersuchungen aus den Niederlanden und den USA gingen zuletzt von einer Inzidenz von ungefähr 0,1 bis 0,23 Fällen pro 100 000 Personenjahre aus. Niedergelassene Kollegen und Kolleginnen sehen Talgdrüsenkarzinome deshalb selten in der Praxis. Wenn doch, stellen sich die Fragen, wie sie diagnostiziert und therapiert werden, wie hoch die Rezidivrate ist und wie es um die Nachsorge steht. All das beantwortet die Leitlinie.
Wie werden Talgdrüsenkarzinome eingeteilt?
Talgdrüsenkarzinome werden am häufigsten anhand ihrer Lokalisation in periokuläre und extraokuläre Formen unterteilt. Allerdings ist die Unterteilung selbst immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Während manche Quellen die kutanen Talgdrüsenkarzinome einer einzigen Klasse zuordnen, deuten Untersuchungen mittels Exom-Sequenzierungen darauf hin, dass anhand von Mutationsmustern drei verschiedene Typen unterschieden werden können: Pauci-mutierte, mit UV(Ultraviolett)-Strahlungs-Schädigungsprofil, und mikrosatelliteninstabile (MSI) Talgdrüsenkarzinome. In der Leitlinie haben wir uns für die Unterteilung in periokuläre und extraokuläre Talgdrüsenkarzinome entschieden, weil sich aufgrund ihres unterschiedlichen klinischen Verhaltens und der anatomischen Lokalisation teilweise andere Empfehlungen für das Management dieser beiden Gruppen ergeben.
Bei welchen Patientengruppen sollte bei entsprechenden klinischen Befunden an ein Talgdrüsenkarzinom gedacht werden und welche diagnostischen Schritte werden empfohlen?
Als Risikofaktoren für die Entstehung von Talgdrüsenkarzinomen gelten Schädigung durch UV-Strahlen, erhöhtes Lebensalter, genetische Prädisposition, insbesondere beim Muir-Torre-Syndrom (MTS),
sowie Immunsuppression, beispielsweise durch HIV-Infektion und AIDS, hämatoonkologische Erkrankungen sowie Organtransplantation. Außerdem wird der Einfluss onkogener Viren diskutiert.
Bei Verdacht auf ein Talgdrüsenkarzinom sollte eine tiefe Biopsie erfolgen. Aufgrund der häufigen intraepithelialen und pagetoiden Tumorausbreitung sind bei periokulären Talgdrüsenkarzinomen zudem
Mapping-Biopsien sinnvoll. Nach der histopathologischen Diagnosesicherung empfiehlt sich eine
klinische Untersuchung des gesamten Integuments, inklusive der Untersuchung der Lymphknotenstationen.
Stichwort „Metastasierung“: Wie hoch ist das Risiko?
Periokuläre Talgdrüsenkarzinome ab Stadium T2c nach UICC (Union internationale contre le cancer) /AJCC (American Joint Committee on Cancer) haben eine Metastasierungsrate von fünfzehn Prozent. Bei
extraokulären Talgdrüsenkarzinomen liegt sie bei
zwei Prozent. Risikofaktoren für eine Metastasierung sind eine Lokalisation an Lippe und Ohr, ein T-Stadium von T2c oder höher, ein schlechter Differenzierungsgrad, eine pagetoide Tumorausbreitung, die perineurale Invasion sowie eine Immunsuppression.
Gibt es spezielle Empfehlungen beim Muir-Torre-Syndrom?
Aufgrund der Assoziation des Muir-Torre-Syndroms mit weiteren Malignomen sollte bei allen Patientinnen und Patienten mit Talgdrüsenkarzinom und Verdacht auf MTS ein solches ausgeschlossen werden. Liegt ein extraokuläres Talgdrüsenkarzinom vor, wird generell ein Screening mittels eines Risikoscores empfohlen.
Bei einer bestätigten MTS-Diagnose sollten jährliche Untersuchungen zum Ausschluss von kutanen und viszeralen Malignomen erfolgen. Neben einem Hautscreening werden eine gynäkologische Untersuchung beziehungsweise eine Untersuchung von Hoden und Prostata, eine Koloskopie bereits ab dem 18. Lebensjahr, Blutbildkontrollen, Urinanalysen sowie eine Bildgebung der Lungen empfohlen.
Welche Empfehlungen gibt die neue Leitlinie zur Therapie von Talgdrüsenkarzinomen?
Die Therapie der ersten Wahl ist sowohl für Primarien als auch für Lokalrezidive die mikroskopisch kontrollierte Chirurgie. Eine Sentinel-Lymphknoten-Biopsie ist nur beim periokulären Talgdrüsenkarzinom ab Stadium T2c zu erwägen.
Eine therapeutische Bestrahlung als Monotherapie kann bei Patienten und Patientinnen, die nicht operativ behandelt werden können oder eine operative Behandlung ablehnen, sinnvoll sein. Eine adjuvante Bestrahlung kommt bei lokal fortgeschrittenen Primarien, unvollständig resezierten Tumoren, knappem Sicherheitsabstand, Perineuralinvasion oder Lymphknotenbefall in Betracht.
Die Lokaltherapie mit topischem Mitomycin und/oder einer Kryotherapie kann bei periokulären Talgdrüsenkarzinomen erwogen werden. Systemische Therapien bleiben schließlich fortgeschrittenen, regionär oder fernmetastasierten Patienten vorbehalten. Als vielversprechende Therapie wird zudem eine Immuntherapie mit PD-1-Inhibitoren angesehen. Das jeweilige Vorgehen sollte in einem interdisziplinären Tumorboard individuell festgelegt werden.
Gibt es Empfehlungen für die Nachsorge?
Für die ersten fünf Jahre nach Erstdiagnose werden Nachsorgeintervalle zwischen drei und sechs Monaten empfohlen. Anschließend werden jährliche Kontrollen angestrebt. Die Nachsorge sollte eine Untersuchung des gesamten Integuments inklusive Palpation der Lymphknotenstationen und -abflusswege enthalten. Eine Anleitung zur Selbstuntersuchung ist ebenfalls empfehlenswert.
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