Durch die demografische Entwicklung wird die Zahl älterer Krebspatienten in Zukunft weiter steigen und ihre besonderen Bedürfnisse müssen in der onkologischen Therapie und Pflege adressiert werden. Das geriatrische Assessment mit seinen validierten Instrumenten zur Beurteilung des Funktionsstatus, der Kognition und der Mobilität sowie des Ernährungsstatus und der psychischen Verfassung kann dabei ein wichtiger Baustein sein.
Bis zum Jahr 2060 wird die Zahl hochbetagter Menschen dramatisch steigen. 2013 lebten 4,4 Millionen 80-Jährige und ältere in Deutschland, das entsprach 5 % der Bevölkerung. Ihre Zahl wird bis 2030 um gut 40 % wachsen und 2060 mit insgesamt neun Millionen etwa doppelt so hoch sein wie heute (Abb. 1). Es ist also damit zu rechnen, dass bis 2060 12–13 % der Bevölkerung 80 Jahre und älter sein werden.[1]
Krebs tritt gehäuft im fortgeschrittenen Alter auf. Mehr als 50 % aller Tumorerkrankungen entstehen bei Menschen über 65 Jahren, das mittlere Erkrankungsalter bei Männern und Frauen liegt bei 69 Jahren. Zwei Drittel aller krebsbedingten Todesfälle betreffen diese Altersgruppe und schon 2020 soll nach Schätzungen jeder fünfte Tumorpatient mindestens 80 Jahre alt sein.[2] Etliche Tumorentitäten erfordern keine sofortige Therapie. Solange die Krankheit keine Beschwerden bereitet und sich nicht rasch weiterentwickelt, entstehen für den Patienten durch eine „Wait-and-see“-Strategie nach aktueller Studienlage langfristig keine Nachteile. Wie schnell ein Tumor wächst und wie die Erkrankung verlaufen wird, lässt sich aber in keinem Fall anhand des Alters eines Patienten prognostizieren. Die leitliniengerechte Behandlung muss daher immer von der Frage ausgehen, ob die Therapie dem Patienten eine Heilung ermöglichen kann oder zumindest einen messbaren Zugewinn an Lebenszeit.
Als Therapieziel steht bei jüngeren Patienten zumeist die Heilung mit Rückkehr in Alltag und Berufsleben im Vordergrund. Bei älteren Patienten gewinnen dagegen der Erhalt oder die Wiederherstellung der Selbstständigkeit Priorität. Nicht so sehr der Schweregrad der Krankheit als vielmehr das Ausmaß beeinträchtigter Funktionen bestimmt dabei vorrangig die Lebensqualität. Tumorpatienten im Alter von über 70 Jahren weisen zu einem hohen Anteil Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens, schwere Begleiterkrankungen, kognitive Störungen und Mangelernährung auf.[3] Bei vielen dieser Patienten ist die Therapie nur im Krankenhaus möglich. Trotzdem sollte im Einzelfall geprüft werden, ob ggf. eine ambulante Therapie in Zusammenarbeit mit einem Pflegedienst organisiert werden kann. Ist auch mit einer umfangreichen Behandlung kein längerer Krankheitsaufschub zu erzielen, geht es vor allem darum, Schmerzen oder andere Krankheitsfolgen zu lindern (Best Supportive Care, BSC). Bei älteren Patienten spielt der Allgemeinzustand bei der Therapiewahl eine wesentlich wichtigere Rolle als bei jüngeren Patienten. Denn viele der bekannten physiologischen Veränderungen im Alter haben direkten oder indirekten Einfluss auf die Therapiefähigkeit eines Patienten (Abb. 2). Wichtig ist also die Abwägung, was auf absehbare Zeit mehr Probleme bereiten wird: die Erkrankung mit ihren Folgen oder die Therapie mit ihren Nebenwirkungen.
Geriatrisches Assessment
Häufig bestimmt bei älteren Patienten nicht der Schweregrad der Krankheit die Lebensqualität, vielmehr das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung. Mortalität und Therapieerfolg können so besser vorausgesagt werden. Ohne Geriatrisches Assessment würden viele Funktionseinschränkungen aber nicht erkannt. Das geriatrische Basisassessment sollte deshalb bei Patienten im Alter von 70+ obligat durchgeführt werden.[4] Auch zahlreiche Fachgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften empfehlen, bei Patienten über 70 Jahren vor Einleitung therapeutischer Maßnahmen ein geriatrisches Assessment vorzunehmen. Die Arbeitsgruppe Geriatrische Onkologie der DGHO hat bereits einen Vorschlag dazu für ältere Patienten erarbeitet und publiziert.[5] Bei Patienten im Alter von unter 70 Jahren sollte das geriatrische Assessment zur Anwendung kommen, wenn im Rahmen von Anamnese und klinischer Untersuchung Hinweise auf funktionelle Einschränkungen bestehen.
Ziele des geriatrischen Assessments sind das Abschätzen
• der Restlebenserwartung vor dem Hintergrund von eventuellen Komorbiditäten,
• ob eine ambulante Chemotherapie möglich ist,
• der Wahrscheinlichkeit der Einschränkung der Lebensqualität im Verlauf der Erkrankung,
• der voraussichtlichen Verträglichkeit der tumorspezifischen Therapie (Toxizität),
• der Möglichkeit, dass die geplante Therapie zeitgerecht und vollständig durchgeführt werden kann,
• des voraussichtlichen Ausmaßes der Einschränkungen der Lebensqualität durch Therapie und Verlauf der Erkrankung.
Eventuelle Komorbiditäten des Patienten korrelieren nur gering mit dem funktionalen Status und haben deshalb bei älteren Tumorpatienten eine zusätzliche vom Funktionsstatus unabhängige prognostische Information.[6] Die mit dem Charlson-Index (Tab.) beurteilte Komorbidität hat auf die Verträglichkeit einer Chemotherapie und die Überlebensrate einen ähnlich starken Einfluss wie der funktionelle Status.[7] Für die Verträglichkeit oder Toxizität der (Chemo-)Therapie haben die Komorbiditäten jedoch keinen Vorhersagewert.[8]
Die sogenannten Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) sind diejenigen Fähigkeiten eines Menschen, die die Selbstversorgung und damit seine Unabhängigkeit gewährleisten. Mit dem Barthel-Index als klassischem ADL-Test nach Katz[9] werden Nahrungsaufnahme, Transfer, persönliche Hygiene, Toilettenbenutzung, Baden, Gehen, Treppensteigen, An- und Auskleiden sowie Kontinenz erfasst. Die Aktivitäten werden auf einer Skala von 0 (vollständig pflegebedürftig) bis 100 (völlig selbstständig) abgebildet. Ab einer Punktzahl von 60 und weniger droht die dauernde Pflegeabhängigkeit, sofern nicht rechtzeitig interveniert wird. Das für kognitive Defizite am häufigsten verwendete Screening-Instrument ist die Mini-Mental State Evaluation (MMSE) nach Folstein.[10] Stürze gehören zu den zentralen gesundheitlichen Risiken älterer Menschen: Ein Drittel aller Menschen im Alter von über 65 Jahren und die Hälfte aller über 90-Jährigen stürzt pro Jahr mindestens einmal.[11] Stürze korrelieren mit erhöhter Mortalität, Verlust von Mobilität und funktioneller Selbstständigkeit. Ein strukturiertes Sturzrisiko-Assessment wie der Timed Up & Go Test nach Podsiadlo[12] ist schnell und einfach durchzuführen. Wenn im Rahmen des Assessments ein erhöhtes Sturzrisiko festgestellt wird, sollten Chemotherapieschemata, welche häufig zu einer Polyneuropathie führen, nach Möglichkeit vermieden werden. Eine Polyneuropathie würde das Sturzrisiko bei diesen Patienten erhöhen. Auch ein schlechter Ernährungszustand kann die Verträglichkeit einer Chemotherapie negativ beeinflussen.
Nach Balducci[13] und Hamerman[14] können ältere onkologische Patienten in drei Gruppen eingeteilt werden:
• Gruppe 1 („go go“): Funktionell unabhängige Patienten ohne schwerwiegende Begleiterkrankungen. Bei diesen kann eine Standardbehandlung durchgeführt werden. Wegen der im Alter reduzierten Knochenmarkreserve ist bei einigen Therapieschemata eine Dosisreduktion und/oder die prophylaktische Gabe von Wachstumsfaktoren erforderlich.
• Gruppe 2 („go“): Diese Patienten benötigen in mindestens einer Aktivität des täglichen Lebens Unterstützung und haben maximal zwei Begleiterkrankungen. Bei diesen Patienten kann eine dosisreduzierte Chemotherapie durchgeführt werden, wenn Unterstützung in den Aktivitäten des täglichen Lebens gewährleistet ist, etwa durch Angehörige oder Pflegedienste. Die Entscheidung für oder gegen eine tumorspezifische Therapie hängt davon ab, ob der Patient eher an seiner Tumorerkrankung oder an einer anderen Ursache sterben wird.
• Gruppe 3 („no go“): Bei dieser Gruppe handelt es sich um die gebrechlichen Patienten mit Abhängigkeiten in den Aktivitäten des täglichen Lebens, drei oder mehr Begleiterkrankungen oder einem geriatrischen Syndrom. Diese Patienten versterben vermutlich nicht an der Tumorerkrankung, sondern aus anderen Gründen. Bei diesen Patienten ist eine rein palliative Therapie indiziert.
Bei der Entscheidung für oder gegen eine tumorspezifische Therapie bei Patienten der Gruppe 2 ist neben dem geriatrischen Assessment auch die Tumorentität entscheidend. So kann bei hochmalignen Lymphomen eine aggressive, damit effiziente und rasch wirksame Chemotherapie indiziert sein. Wird der Patient jedoch wahrscheinlich nicht an seiner Tumorerkrankung, sondern eher an anderen Erkrankungen versterben, ist eine palliative Therapie angezeigt.
Entscheidend bei der Wahl der Therapie ist immer der Patientenwille. Kein Patient ist jedoch verpflichtet, selbst zu entscheiden: Betroffene können die Verantwortung für die Behandlungsplanung ganz oder zumindest zeitweilig auf die behandelnden Ärzte sowie Verwandte oder Freunde übertragen. Der Krebsinformationsdienst listet folgende Fragen, die grundsätzlich mit dem familiären Umfeld besprochen werden sollten[15]:
• Wie lange dauert voraussichtlich der Krankenhausaufenthalt?
• Wie wirkt sich die vorgesehene Behandlung auf die Lebensqualität aus? Mit welchen körperlichen Einschränkungen ist kurzfristig, mit welchen auf Dauer zu rechnen?
• Wie lange benötigt der Patient intensive Pflege und wie muss diese Pflege aussehen?
• Welche Möglichkeiten der Rehabilitation kommen infrage, welche nicht? Ist die Rehabilitation ambulant oder stationär möglich?
• Ist absehbar, dass auf längere Zeit Pflegebedarf entstehen wird? Sollten entsprechende Leistungen aus der Pflegeversicherung beantragt werden und wer ist dafür Ansprechpartner?
Bei Senioren, die im betreuten Wohnen oder einem Alters- oder Pflegeheim leben, zusätzlich:
• Kann die bisherige Einrichtung die notwendige Pflege in der Erholungszeit leisten? Oder muss für eine gewisse Zeit eine andere Lösung gefunden werden?
• Muss die derzeitige Pflegestufe angepasst werden?
Patienten sollten Vollmachten immer schriftlich erteilen. Die Vorsorgevollmacht legt fest, wer bei Entscheidungsunfähigkeit des Patienten für ihn entscheiden kann und was die beauftragte Person tun kann, und was sie gegebenenfalls auch nicht übernehmen darf. Entsprechende Vordrucke halten Kliniksozialdienste und Krankenkassen sowie viele weitere Organisationen bereit. Diese Vollmacht ist nicht zu verwechseln mit einer Patientenverfügung, die festlegt, wie man behandelt und betreut werden möchte, wenn man seinen Willen nicht mehr selbst äußern kann und beinhaltet eventuelle Therapiebegrenzungen.
Fazit
Die Individualisierung der Therapie als risikostratifizierte Medizin hat in der Onkologie in den vergangenen Jahren hohe Bedeutung erlangt und der Trend geht auch bei älteren Tumorpatienten hin zu einer stärker individualisierten, toxizitätsadaptierten Therapie. Das geriatrische Assessment erfüllt mit seinen validierten Instrumenten zur Beurteilung des Funktionsstatus, der Kognition, der Mobilität sowie des Ernährungsstatus alle Voraussetzungen, für Patienten ab 70 Jahren Teil dieser personalisierten Entscheidung zu werden. Und mit den Tumorboards haben wir ein bewährtes Konzept, in dem das geriatrische Assessment seinen Platz finden sollte.
Der Autor
Prof. Dr. med. Dr. rer. physiol. Gerald Kolb
Medizinische Klinik Abteilung Innere Medizin,
Fachbereich Geriatrie, Physikalische Medizin
und Rehabilitationsmedizin Akademisches
Lehrkrankenhaus der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
[1] www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2015/bevoelkerung/Pressebroschuere_Bevoelk2060.pdf
[2] www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebsgeschehen/Krebsgeschehen_download.pdf
[3] Balducci L, Extermann M, Management of cancer in the older person: a practical approach. Oncologist 2000; 55: 224–237
[4] Leischker AH, Kolb GF, Diagnostik und Therapie in der Onkologie – leitliniengerecht? Euro J Ger 2009; 11: 110–120
[5] Friedrich C, Kolb G, Wedding U et al., Comprehensive Geriatric Assessment in the elderly cancer patient. Onkologie 2003; 26: 355–360
[6] Extermann M, Measurement and impact of comorbidity in older cancer patients. Crit Rev Oncol Hematol 2000; 18: 2529–2536
[7] Frasci G, Lorusso V, Panza N, Gemcitabine plus vinorelbine versus vinorelbine alone in elderly patients with advanced non-small-cell lung cancer. J Clin Oncol 2000; 18: 2529–2536
[8] Extermann M, Chen H, Cantor MB et al., Predictors of tolerance to chemotherapy in older cancer patients: a prospective pilot study. Eur J Cancer 2002; 38: 1466–1473
[9] Katz S, Ford AB, Moscowitz RW et al., Studies of illness in the aged. The index of ADL: a standardized measure of biological and psychosocial function. JAMA 1963; 185: 94–99
[10] Folstein MF, Folstein SE, McHugh PR, „Mini-Mental State”, A practical method for grading the cognitive status of patients for the clinician. J Psychiatr Res 1975; 12: 189–198
[11] Trilling JS, Tanvir N, Selections from current literature: falls in the elderly. Fam Pract 1995; 12: 482–485
[12] Podsiadlo D, Richardson S, The timed „up & go”: A test of basic functional mobility for frail elderly persons. J Am Geriatr Soc 1991; 39: 142–148
[13] Balducci L, Extermann M, Management of cancer in the older person: a practical approach. Oncologist 2000; 5: 224–237
[14] Hamerman D, Toward an understanding of frailty. Ann Intern Med 1999; 130: 945–950
[15] www.krebsinformationsdienst.de, zuletzt abgerufen am 10. November 2018
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