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Allgemeinmedizin

Therapie Diabetes mellitus

Ziele bei Typ-2-Diabetes partizipativ festlegen

Dr. med. Tobias Wiesner

21.7.2023

Spielten individuelle Patientenmerkmale und Komorbiditäten in früheren Therapiealgorithmen des Typ-2-Diabetes (T2D) eine eher untergeordnete Rolle, stehen heute personalisierte Therapieziele im Vordergrund eines modernen T2D-Managements. Wie lassen sich moderne Therapieziele im Alltag umsetzen und welchen Beitrag leisten die neueren pharmakologischen Optionen?

Dr. med. Tobias Wiesner

Da die therapeutische Zielsetzung beim Typ-2-Diabetes von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängig ist, gestaltet sich auch die Therapieplanung komplex: Angefangen bei der Patientenpräferenz über bestehende Komorbiditäten, Alter und die individuelle Lebenserwartung, bedürfen auch die individuellen Umstände der Lebensqualität, kulturelle und psychologische Gegebenheiten, das soziale Umfeld oder die Möglichkeiten und Fähigkeiten der Betroffenen der Berücksichtigung. Eine Behandlung nach einem „one size fits all“-Konzept kann es folglich nicht geben. Vielmehr werden gemeinsam mit dem Patienten Zielvereinbarungen aufgestellt und idealerweise quartalsweise vereinbart: Die im Mai 2023 aktualisierte Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Typ-2-Diabetes räumt den Erfordernissen einer partizipativen Entscheidungsfindung (PEF) auch erstmals ein eigenes Kapitel ein und enthält konkrete Vorschläge zur Formulierung von Zielkategorien (Tab. 1) sowie zur Umsetzung einer PEF [1].

Therapieziele

Basierend auf der derzeit verfügbaren Evidenz kommen grundsätzlich zwei Wege in Betracht, an denen sich die Wahl der geeigneten Therapiestrategie ausrichten lässt: die Reduktion von Folgeerkrankungen und/oder die primäre Reduktion der Wahrscheinlichkeit, ein kardiovaskuläres bzw. renales Ereignis zu erleiden. Ersteres soll primär durch die Kontrolle des HbA1C-Werts – dem Surrogatparameter für die Stoffwechseleinstellung – erreicht werden, Zweiteres durch die Gabe von Medikamenten, die in Studien eine Reduktion der entsprechenden Endpunkte gezeigt haben [1].

Lebensstilmodifikation weiterhin essenziell

Zur Verschlankung der pharmakologischen Therapiemaßnahmen und Minimierung von diabetisch bedingten Komplikationsrisiken spielt die Etablierung eines gesunden Lebensstils eine nach wie vor basale Rolle – insbesondere zu erreichen durch Maßnahmen wie strukturierte Patientenschulung, Ernährungstherapie, körperliche Aktivität, Tabakentwöhnung oder Stressbewältigung. Da sich diese lebensstilmodifizierenden (nicht medikamentösen) Maßnahmen alleine aber häufig nicht als ausreichend erweisen, erfolgt im nächsten Schritt die Hinzunahme von Antidiabetika. Häufig kommt erschwerend eine Multimorbidität der Patienten hinzu, die eine Polypharmakotherapie erforderlich machen kann. Die stufenweise Eskalation der Therapiemaßnahmen bezieht sich auf die relativ kompensierte Stoffwechselsituation (und bedarf bei Stoffwechseldekompensation einer spezifischen Anpassung, z. B. beim neu diagnostizierten T2D).

Start der medikamentösen Therapie

Vor der Initiierung einer medikamentösen Therapie ist eine genaue Risikoeinschätzung gefordert: Als Kriterien kommen das Alter des Patienten und ergänzend die Nierenfunktion, Diabetesdauer, arterielle Hypertonie, Raucherstatus, Mikro-/Makroalbuminurie, Lipidstatus/Gebrauch von Lipidsenkern, Adipositas, kardiale Parameter und familiäre Belastung (erstgradige Verwandte mit frühzeitiger koronarer Herzkrankheit) infrage. Die Risikoabschätzung muss individuell erfolgen – allgemeingültige Risikoscores stehen bislang nicht zur Verfügung [2].

Häufig erweist sich eine Zweifachkombination, etwa Metformin plus einem Glukagon-ähnlichem Peptid-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) oder Natriumglucose-Cotransporter-2-Inhibitor (SGLT2i) nicht nur als notwendig, sondern in Bezug auf Nebenwirkungsrisiken auch gegenüber der Monotherapie als günstiger, da in der Kombination zum Teil niedriger dosiert werden kann. Neben einer weiteren Eskalation der Therapie mit einem GLP-1-RA oder einem Insulin kann sich zudem eine Dreifachkombination anbieten, wie insbesondere mit Metformin, einem DPP-4-Inhibitor (Gliptin) sowie einem SGLT2i.

Mit zunehmendem HbA1C-Wert wird der Einsatz von Insulin wahrscheinlicher. Die Heterogenität des T2D und die Individualität der Therapieziele lassen allerdings auch Raum für eine Adjustierung von Therapieentscheidungen – wie insbesondere bei Erreichen von HbA1C-Zielwerten. Sowohl was die Fortsetzung einer Insulintherapie nach Stoffwechselrekompensation betrifft als auch die Therapieausweitung auf jeder Therapiestufe – kommen auch immer wieder Deeskalationsstrategien in Betracht [2].

Im Zuge der Vielzahl von neu eingeführten Antidiabetika (DPP-4-Hemmer, GLP-1-RA, SGLT2i) kam es in den vergangenen 15 Jahren zu bedeutsamen Neuerungen im T2D-Management. Ein wichtiger Therapieaspekt, der an Bedeutung gewonnen hat, ist die kardiovaskuläre Sicherheit bzw. der kardiovaskuläre Outcome bei T2D-Patienten. Insbesondere nachdem der Insulin-Sensitizer Rosiglitazon in Verdacht geraten war, kardiovaskuläre Risiken zu erhöhen (anstatt sie zu senken), machte es die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA zur Auflage, für neuere orale Antidiabetika auch kardiovaskuläre Sicherheitsdaten zu erheben [3]. Die in den kardiovaskulären Outcome-Studien gewonnenen Erkenntnisse haben wiederum das pathophysiologische Verständnis und die therapeutischen Möglichkeiten beim T2D deutlich erweitert. So können „Off-Target“-Wirkungen jenseits der glykämischen Kontrolle, die unter GLP-1-RA oder SGLT2i (z. B. Verringerung des Körpergewichts und des Blutdrucks) bei gleichzeitig verbesserten Sicherheitsprofilen (z. B. seltener Hypoglykämien im Vergleich zu Insulin und Sulfonylharnstoffen) heute dazu beitragen, das Risiko einer atherosklerotischen Herz-Kreislauf-Erkrankung bei T2D zu verringern [4].

Kardiovaskuläre/renale Morbidität reduzieren

Prinzipiell werden bei Patienten mit kardiovasku­lären oder renalen Komorbiditäten, oder einem sehr hohen kardiovaskulären Risiko, primär in Kombination mit Metformin (eGFR > 30 ml/min) Substanzen empfohlen, für die eine Reduktion der kardiovaskulären/­renalen Morbidität nachgewiesen wurde. Eine tabellarische Übersicht der spezifischen Wirkungen der antidiabetisch wirksamen Medikamente auf metabolische Parameter (v. a. kardio-/mikrovaskulär, renal, Hypoglykämierisiko, HbA1C, Gewicht) wurde vom ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin und der NVL-Arbeitsgruppe zusammengestellt (www.leitlinien.de/nvl/diabetes). Sie basiert auf der aktuell verfügbaren Evidenz aus randomisierten, kontrollierten Studien und Metaanalysen und bietet eine schnelle Orientierungshilfe (vgl. Ausschnitt in Tab. 2).

Dabei ist Metformin aufgrund des bekannten Sicherheitsprofils, der umfangreichen Erfahrung und guten Effektivität nach wie vor als Antidiabetikum der ersten Wahl anzusehen. Als vorteilhaft bei Metformin gilt auch das vergleichsweise geringe Hypoglykämierisiko. Die Behandlung ist bis zu einer Nierenfunktionseinschränkung Grad 3b möglich (eGFR [geschätzte glomeruläre Filtrationsrate] bis 30 ml/min), bei einer eGFR von 30–44 ml/min ist ggf. eine Dosisreduktion zu erwägen, und die Vor- und Nachteile der Therapie sollten mit dem Patienten besprochen ­werden. Weniger gut abgesichert durch Studiendaten sind klinische Endpunkte wie kardiovaskuläre Gesundheit oder Gesamtmortalität unter Metformin. Interessanterweise wurden während der COVID-19-Pandemie niedrigere Mortalitätsraten bei prästationär mit Metformin behandelten vs. nicht mit ­Metformin therapierten T2D-Patienten beobachtet, die wegen einer COVID-19-Erkrankung stationär versorgt wurden [5].

Jahrzehntelange Erfahrungen sind auch im Einsatz von Sulfonylharnstoffen verfügbar. Allerdings besitzen sie unter allen oralen Antidiabetika das höchste Hypoglykämiepotenzial und sind bei nachlassender Nierenfunktion (eGFR < 30 ml/min) mit Ausnahme von Gliclazid und Gliquidon kontraindiziert.

Aufgrund des günstigen Sicherheitsprofils (Einsatz auch bei progredienter Niereninsuffizienz möglich) und der guten Verträglichkeit werden Sulfonylharnstoffe zunehmend durch DPP-4-Hemmer ersetzt. Sie bieten sich auch als nebenwirkungsarme Antidiabetika in Mono- oder Kombinationstherapie für Patienten an, für die Metformin kontraindiziert ist. Linagliptin ist auch bei (prä-)terminaler Niereninsuffizienz nicht kontraindiziert. Im Unterschied zu den Sulfonylharnstoffen (moderat gewichtssteigernde Wirkung) gelten DPP-4-Hemmer als weitgehend gewichtsneutral – bei niedrigen Hypoglykämieraten. Zudem werden sie mit einer längeren, effektiveren Kontrolle der Stoffwechsellage assoziiert als Sulfonylharnstoffe. Unter DPP-4-Hemmern wurden – wenn auch sehr selten – akute Pankreatitiden berichtet [6], sodass bei Patienten mit T2D und einer Pankreatitis in der Vorgeschichte Vorsicht angezeigt ist.

SGLT2i, GLP-1-RA und GIP/GLP-1-RA

Neben einer effektiven antihyperglykämischen Wir­kung bei geringem Hypoglykämierisiko und gewichts­reduzierenden Eigenschaften verfügen SGLT2-Inhibitoren (in Deutschland zugelassen: ­Dapagliflozin, Empagliflozin, Ertugliflozin) über eine blutdruck­senkende Wirkung im klinisch relevanten Bereich. Effekte auf kardiovaskuläre und renale Endpunkte wurden in großen, randomisierten und kontrollierten Studien evaluiert und sprechen bei einem breiten Patientenspektrum für einen Benefit der kardiovaskulären bzw. renalen Outcomes (Tab. 2).

Darüber hinaus haben die SGLT2i einen deutlichen Benefit bei der Herzinsuffizienz. Empagliflozin und Dapagliflozin haben nicht nur bei Herzinsuffizienz mit erniedrigter Auswurffraktion (HFrEF) eine Prognoseverbesserung gezeigt, sondern auch bei Herzinsuffizienz mit „mild reduzierter“ (HFmrEF) oder weitgehend normaler („erhaltener“) Auswurffraktion (HFpEF).

GLP-1-RA sind zur subkutanen oder oralen Therapie des T2D indiziert und können Plasmaglucosespiegel im Schnitt stärker senken als klassische orale Antidiabetika. Sie ahmen die physiologische Wirkung des Hormons GLP-1 nach, das die glucoseabhängige Freisetzung von Insulin stimuliert und die Glukagon-Ausschüttung unterdrückt. Daneben verzögert sich die Magenentleerung und der Appetit reduziert sich, was zur Gewichtsabnahme beiträgt. Weiterhin verfügen sie über eine geringfügige blutdrucksenkende Wirkung sowie gewichtsreduzierende und spezifische kardio- bzw. renoprotektive Effekte (Tab. 2). ­Daher können sie bei Verfehlen der individuell ­gesetzten Therapieziele eine sinnvolle Kombination zu Metformin, anderen oralen Antidiabetika (außer DPP-4-Inhibitoren) und/oder Basalinsulinen darstellen. Zugelassen sind in Deutschland derzeit Dulaglutid, Liraglutid und Semaglutid (humane GLP-1-RA) sowie die Exedin-basierten GLP-1-RA Exenatid und Lixisenatid (in der Fixkombination mit Insulin glargin). Derzeit sind die in Deutschland verfügbaren GLP-1-RA Injektionstherapien.

Seit Kurzem ist der duale GIP/GLP-1-Rezeptoragonist Tirzepatid zugelassen, der sowohl über Eigenschaften des glucoseabhängigen insulinotropen Peptids (GIP) als auch des GLP-1-RA Dulaglutid verfügt und 1-mal wöchentlich injiziert wird: Unter Studien­bedingungen zeigte sich Tirzepatid mit einem ­dosisabhängigen ­Gewichtsverlust bis zu 13 kg ­assoziiert und führte zu einer stärkeren Reduktion des HbA1C-Werts als reine GLP-Monotherapien [7,8].

Was das bekanntermaßen durch Adipositas und T2D erhöhte Risiko einer progredienten nicht alkoholischen Fettlebererkrankung (NAFLD) betrifft, konnten in klinischen Studien zwar bisher keine ­Effekte auf eine bereits bestehende Leberfibrose bzw. NASH-(entzündliche Steatohepatitis-)assoziierte kompensierte Zirrhose nachgewiesen werden [9-11]. Aufgrund der verbesserten metabolischen Situation unter GLP-1-RA (u. a. verbesserte Dyslipidämie und HbA1C-Werte, reduziertes Körpergewicht) könnte aber langfristig die Aussicht auf ein verringertes NAFLD-/kardiovaskuläres Progressionsrisiko bestehen. Gegenwärtig werden in weltweit mehr als 7 000 klinischen Studien vor allem Substanzen evaluiert, die die Insulinsensitivität erhöhen, die Insulinsekretion oder die Inkretinachse stimulieren sowie die Glucoseproduktion in der Leber unterdrücken. Als besonders vielversprechend stellen sich neben den dual wirksamen GIP/GLP-1-RA u. a. auch dreifach wirksame Triagonisten dar, welche neben den Rezeptoren für GLP-1 und GIP auch am Glukagon-Rezeptor wirken [3]. (Thema: >Diabetes mellitus)

Fazit

Der Autor

Dr. med. Tobias Wiesner
Praxis für Endokrinologie
Schwerpunktpraxis Diabetes mellitus
Hausärztliche Versorgung

tobias.wiesner@stoffwechselmedizin-leipzig.de

1 Nationale VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes, Version 3.0, 2023; AWMF-Register-Nr. nvl-001
2 Landgraf R et al., Diabetologie 2022; 18: 623–56
3 Sattar N, BMC Medicine 2019; 17: 46
4 Perreault L et al., Nat Rev Endocrinol 2021; 17: 364–77
5 Kow CS et al., J Med Virol 2021; 93: 695–97
6 Tkáč I et al., Diabetes Care 2017; 40: 284–86
7 Rosenstock J et al., Lancet 2021; 398: 143–55
8 Frias JP et al., N Engl J Med 2021; 385: 503–15
9 Newsome PN et al., N Engl J Med 2021; 384: 1113–24
10 Armstrong MJ et al., Lancet 2016; 387: 679–90
11 Loomba R et al., Lancet Gastroenterol Hepatol 2023; 8: 511–22

Bildnachweis: privat

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